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Nachschlagwerk für Aerosolforschung und Infektionsmedizin

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Mira und Christoph Pöhlker hat das Wissen zu Infektionskrankheiten, die über die Atemluft verbreitet werden, zusammengefasst und in einem Übersichtsartikels in der Zeitschrift „Reviews of Modern Physics“ veröffentlicht.

Infektionskrankheiten, die über die Atemluft verbreitet werden, spielen weltweit eine große Rolle. Trotzdem sind wesentliche physikalisch-chemische Eigenschaften der Partikel dabei nach wie vor weitgehend unbekannt. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Mira und Christoph Pöhlker hat deshalb das Wissen dazu zusammengefasst und in einem Übersichtsartikels in der Zeitschrift „Reviews of Modern Physics“ veröffentlicht. Daran beteiligt waren Forschende des Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, des Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, des Leibniz-Instituts für Troposphärenforschung (TROPOS) in Leipzig, der Universität Leipzig, der University of Denver und der Georg-August-Universität Göttingen.

Es schnupft und hustet wieder verstärkt um uns herum – ein Beleg dafür, dass die Erkältungssaison vor der Tür steht. Viele ansteckende Krankheiten wie Erkältung, Grippe, Covid-19 aber auch Masern und Tuberkulose werden beim Sprechen, Niesen oder Husten von Mensch zu Mensch übertragen. Die Erreger – Viren oder Bakterien – reisen als blinde Passagiere in Aerosolen und Tröpfchen mit, die ein Infizierter über Mund und Nase abgibt und so verbreitet.

Obwohl Infektionskrankheiten weltweit eine enorme Rolle spielen, sind wesentliche physikalisch-chemische Eigenschaften der Partikel, durch die sie verbreitet werden, nach wie vor weitgehend unbekannt. Dazu zählt auch die Frage, wo und bei welcher Aktivität sie im Atemtrakt entstehen, wie sie transportiert werden und welche Pathogene sie dabei mit sich nehmen.

Jetzt stellen Mira und Christopher Pöhlker eine umfassende Bestandsaufnahme und ein Schema vor, das die Atemwegsaerosole und -tröpfchen aufgrund ihrer Größe und des Entstehungsortes im Atemtrakt in verschiedene Gruppen einteilt. Die Studie, die mit Kolleg:innen vom Max-Planck-Institut für Chemie, vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation sowie weiterer Institute in Leipzig, Denver und Göttingen entstand, liefert auch erste Hinweise, welche Aktivitäten unserer Atemwege die Ausbreitung welcher Krankheitserreger fördern können. „Unsere Einteilung wird helfen, die Quellen infektiöser Partikel zu lokalisieren und nachzuverfolgen“, sagt Dr. Pöhlker. Der Aerosolforscher ist überzeugt, dass das neue Schema helfen wird, Infektionskrankheiten besser zu verstehen und einzudämmen.

Zusammenhang von Atemwegsaktivitäten und Ausbreitung von Krankheitserregern

Für ihre Studie durchforstete das Ehepaar mehr als 400 Publikationen rund um das Thema Aerosole und atemwegsbedingte Infektionskrankheiten. Darunter waren auch die zahlreichen theoretischen und experimentellen Untersuchungen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie entstanden. Es flossen zudem eigene Experimente ein, bei der beispielsweise mit hochauflösenden Größenspektrometern und Holografieaufnahmen untersucht wurde, wie sich Atemaerosole und -tröpfchen bei unterschiedlichen Tätigkeiten wie Atmen, Sprechen oder Singen ausbreiten. Auch die Untersuchungen zur Frage, welche Art von Schutzmaßnahmen wie Abstand, Masken und Lüften vor Coronaviren schützen, fanden Berücksichtigung. „Wir haben die Aerosolbildung bei insgesamt 132 Personen während verschiedenen Aktivitäten untersucht“, sagt Eberhard Bodenschatz, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „Es stellte sich heraus, dass die Infektionsgefahr durch Aerosole und die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen maßgeblich davon abhängen, in welchem Teil der Atemwege sich das Virus befindet“, erklärt Bodenschatz weiter.

Die Covid-19 Pandemie war auch Auslöser des jetzt in der Zeitschrift „Reviews of Modern Physics“ veröffentlichten Übersichtsartikels. Normalerweise untersucht Christopher Pöhlker Aerosolpartikel in Waldökosystemen wie dem brasilianischen Regenwald, seine Frau Mira ist Wolkenforscherin an der Universität Leipzig und am Leibniz Institut für Troposphärenforschung (TROPOS). Da beide während des ersten Lockdowns Anfang 2020 wie viele andere zu Hause festsaßen, wandten sie sich Covid-19 und anderen Infektionskrankheiten zu, bei denen Aerosole eine entscheidende Rolle spielen. „Wir hatten angenommen, dass die physikalisch-chemischen Grundlagen, wie und wo Atemwegspartikel entstehen und welche Größe sie haben, längst gründlich geklärt seien. Die Mechanismen sind schließlich nicht nur für COVID-19, sondern auch für Influenza, Tuberkulose, Masern und viele andere Krankheiten hoch relevant“, sagt Pöhlker. „Das war aber nicht der Fall. Zu unserer großen Überraschung stellten wir fest, dass die Datenlage sehr dünn war und viele Studien aufgrund von fehlenden Standards nur bedingt vergleichbar waren. Dies haben wir nun geändert. Unsere Publikation wird hoffentlich eine hilfreiche Referenz für Aerosolforscher genauso wie für Infektionsmedizinerinnen,“ ergänzt Prof. Dr. Mira Pöhlker.

Nachschlagewerk für Aerosolforschung und Infektionsmedizin

Die Forschenden ordnen die Atemwegspartikel aufgrund des Entstehungsortes in ein neues Schema. Die kleinsten Tropfen mit Durchmessern von weniger als 0,2 Mikrometern und zwischen etwa 0,2 und einem Mikrometer gehören danach in zwei bronchioläre Gruppen, da sie in den Bronchiolen, also den feinen Lungenverästelungen, entstehen. Ursache ist der dünne Flüssigkeitsfilm auf der Oberfläche der Bronchiolen, der beim Einatmen zerreißt.

Am anderen Ende des Größenspektrums liegen die oralen Aerosole und Tröpfchen. Sie stammen zumeist aus dem Mund, der Zunge und den Lippen und sind im Durchmesser zwischen 8 und 130 Mikrometern zu finden. Sie entstehen zum Beispiel, wenn wir sprechen oder lachen, da dabei Speichelfäden im Mundraum entstehen und wieder zerreißen. Beim Öffnen des Mundes finden diese Tröpfchen ihren Weg nach draußen und können Personen in direkter Nähe treffen. „Zur oralen Gruppen zählen wir auch die Tropfen, die beim Niesen in der Nase und im Rachen entstehen und die oft so groß sind, dass man sie sehen kann“, sagt Pöhlker, dessen Atemwegströpfchen in Experimenten auch selbst vermessen wurden.

Dazwischen und als weitere Kategorie definieren die Aerosolforscher die Larynx-Trachea-Gruppe, da die Tröpfchen den Stimmlippen entstammen, die zwischen Kehlkopf und Luftröhre liegen. Diese Partikel entstehen beim Lachen, Sprechen, Singen und Husten entstehen. „Um sich vor kleinen Tröpfchen aus der Lunge zu schützen, ist es daher besonders wichtig, Gesichtsmasken mit einer hohen Filterwirkung und einer engen Passform zu verwenden. Bei größeren Tröpfchen aus den oberen Atemwegen sind die Filterwirkung des Maskenmaterial und der Sitz dagegen weniger wichtig“, erläutert Mohsen Bagheri, Gruppenleiter in der Abteilung von Bodenschatz.

„Unsere Hypothese war, dass die Größe eines Partikels mit seinem Entstehungsort zusammenhängt, da man das von atmosphärischen Aerosolen kennt“, sagt Christopher Pöhlker. „Die Analysen bestätigen dies und wir können damit alle bisher gemessenen Größenverteilungen erklären.“

Der Entstehungsort eines Partikels bestimmt seine Größe

Hinsichtlich der Frage, welche Tröpfchen welche Erreger mit sich nehmen, sind die Hinweise bei Tuberkulose am eindeutigsten. „Die Lungenkrankheit wird durch Bakterien übertragen und die sind für die bronchiolären Aerosole wohl zu groß. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Erreger die mittelgroßen Larynx-Trachea-Partikel benötigen, also die, die rund um die Stimmlippen entstehen“, sagt Mira Pöhlker. „Das passt zu dem für Tuberkulose typischen Husten.“ Ihr Mann ergänzt „Die Erreger sind offensichtlich in einem Transportoptimum unterwegs. Sie reisen auf Partikeln, die groß genug für sie sind, aber klein genug, um bei anderen Personen tief in die Lunge eindringen zu können.“

Bei viralen Erregern wie Influenza und SARS-CoV-2 ist die Zuordnung von Partikelgröße, Entstehungsort und Infektionspotenzial noch recht unklar. „Ob ein Tropfen an der Verbreitung eines Atemwegserregers beteiligt ist, hängt wahrscheinlich von der Größe des Tropfens sowie von der Schwere und dem Ort der Infektion ab”, sagt Pöhlker. „Diese wichtige Information haben wir noch nicht. Es gibt sehr wenige Daten, aufgrund derer wir beurteilen können, auf welche Weise die Erreger sich fortbewegen. Um dies zu klären, sind Studien mit Infizierten und die Zusammenarbeit zwischen Aerosolexperten und Klinikern notwendig. Dadurch lässt sich genauer bestimmen, welche Maßnahmen zur Verhinderung der Übertragung von Atemwegserkrankungen am wirksamsten sind,“ resümiert der Max-Planck-Forscher.

Originaltitel der Veröffentlichung in “Reviews of Modern Physics”:

“Respiratory aerosols and droplets in the transmission of infectious diseases”, doi.org/10.1103/RevModPhys.95.045001

News der “Universität Leipzig” vom 09.11.2023


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