Pünktlich zur MEDICA präsentiert der Branchenverband SPECTARIS die neuesten wirtschaftlichen Kennzahlen. Darüber hinaus gibt es neue Ergebnisse einer gemeinsamen Umfrage mit dem Branchencluster MedicalMountains aus Tuttlingen. Demnach stehen die Anzeichen stehen auf Verbesserung. Obwohl gerade die Medizintechnikbranche bei der medizinischen Bewältigung der Coronakrise stark gefordert ist, verzeichnen viele Firmen Umsatzeinbußen und erwarten dauerhafte Veränderungen der Geschäftsprozesse. 69 Prozent der Unternehmen gehen für 2020 von einem im Vergleich zum Vorjahr schlechteren, demgegenüber rechnen 14 Prozent mit einem gleichbleibenden Umsatzergebnis und 18 Prozent mit einem Umsatzzuwachs.
Minus fällt weniger stark aus als gedacht
Für das Gesamtjahr 2020 wird ein Umsatzrückgang der Branche von etwa vier Prozent erwartet, beim Auslandsgeschäft fällt das prognostizierte Minus mit sechs Prozent noch etwas höher aus, berichtete Markus Kuhlmann, Geschäftsführer Medizintechnik bei SPECTARIS bei einer Online-Pressekonferenz während der virtuellen MEDICA, die am 16. November gestartet ist. Gleichzeitig verwies er aber auch darauf, dass die Branche 2019 mit einem Umsatzplus von 10% gegenüber dem Vorjahr ein extrem gutes Jahr hatte und man für 2020 aus dieser Perspektive heraus noch am Jahresanfang mit einem weiteren deutlichen Plus gerechnet hatte. Nun erwartet der Verband für das Geschäftsjahr 2020 einen Gesamtumsatz von 32 Mrd Euro. Dies entspricht einem Minus von 3,6% gegenüber dem Vorjahr. Gleichwohl liegt dieser Betrag noch über den Zahlen von 2018, als ein Umsatz von 30 Milliarden Euro erwirtschaftet wurde.
Einschätzung hat sich im Jahresverlauf gebessert
Die derzeitige Gesamteinschätzung hat sich im Vergleich zur Juni-Umfrage zudem verbessert, bei der noch mit einem Rückgang von acht beim Gesamtumsatz bzw. zwölf Prozent beim Auslandsumsatz gerechnet wurde, so der Verband. Auch der Ist-Auftragseingang, der im Zeitraum Januar bis Mai noch um elf Prozent unter dem entsprechenden Vorjahreszeitraum lag, zeigt mit einem Rückgang von etwa sieben Prozent im Zeitraum Januar bis September eine leicht steigende Tendenz. Das Inlandsgeschäft entwickelt sich im Vergleich zum internationalen Geschäft freundlicher und könnte zum Jahresende sogar ein Prozent über dem Vorjahresniveau liegen. Ausgehend von diesem Stimmungsbild erwirtschaften die mehr als 1.400 deutschen Betriebe (mit mehr als 20 Beschäftigten) mit ihren rund 150.000 Mitarbeitern in diesem Jahr voraussichtlich einen Umsatz von etwa 32 Mrd. Euro, davon etwa 20 Mrd. Euro im Ausland. Im Vorjahr betrug der Gesamtumsatz über 33 Mrd. Euro.
„Die deutsche Medizintechnik hat sich in den schwierigen Zeiten der Corona-Krise als verlässlicher Partner bewiesen. Damit das auch künftig möglich ist, brauchen wir ein Umdenken auf Seiten der Politik“, betonte auch Martin Leonhard, Vorsitzender der Medizintechnik im Deutschen Industrieverband SPECTARIS. „Das Gesundheitssystem erwartet gerade jetzt, dass die Medizintechnikindustrie liefert. Der stetig zunehmende Bürokratieaufwand bringt viele Hersteller jedoch an ihre Belastungsgrenze und schadet der Innovationskraft der Branche, “ so Leonhard. Auch müsse der internationale Handel und Austausch weiter gestärkt und den Tendenzen nationaler Abschottung entgegengewirkt werden, um den Exportmotor am Laufen zu halten.
Krise als Chance für notwendige Umbrüche
Thilo Kaltenbach von der Unternehmensberatung Roland Berger verwies darauf, dass die Coronakrise vor allem als Dämpfer zu betrachten sei und womöglich auch längst notwendige Umbrüche katalysiert – etwa im Bereich Digitalisierung und Konsolidierung. „Mit Blick auf digitale Vertriebsmöglichkeiten, Kooperationen mit Start-ups oder dem weiteren Ausbau neuer digitaler Produkte bietet die Krise auch Chancen“, so Kaltenbach. Gemeinsam mit dem Verband hat Roland Berger eine Studie veröffentlicht, wie Corona die Branche verändert und welche Handlungsempfehlungen aus wirtschaftlicher Sicht abzuleiten sind. (mehr zur Studie gibt es hier) “So hat die Digitalisierung, die in den vergangenen Jahren nur zögerlich vorangekommen ist, rasant an Fahrt gewonnen. Das zeigt sich beispielsweise an der steigenden Akzeptanz von Telemedizin und digitalen ambulanten Versorgungskonzepten sowie an der beschleunigten Prozessdigitalisierung in der Medizintechnik und im Krankenhaus“, erklärt Kaltenbach und betont: „Corona hat tiefe Spuren hinterlassen und das Bewusstsein dafür geschärft, wie wichtig tragfähige Notfallpläne und stabile Lieferketten sind. Auch hier spielt die Digitalisierung eine zentrale Rolle.” In der Studie stimmten jeweils mehr als sieben von zehn Befragten der Aussage zu, dass die Bereiche Telemedizin, Automatisierung und präventive Diagnostik sowie digitale Anwendungen, etwa Warn-Apps oder Tools zur digitalen Nachverfolgung, weiter an Bedeutung gewinnen und zu den Technologiegewinnern der Pandemie gehören werden.
Digitale Arbeitsmodelle gewinnen an Bedeutung
Jörg Mayer, Geschäftsführer von SPECTARIS, ist überzeugt: „Die Krise hat einen Prozess in Gang gesetzt, der unumkehrbar ist. Digitale Arbeitsmodelle sowie Vertriebs-, Service- und Ausstellungskonzepte nehmen inzwischen einen sehr hohen Stellenwert in der Strategie vieler Unternehmen ein und werden auch nach Corona mindestens gleichberechtigt neben klassischen Arbeitsweisen und persönlichen Kundenkontakten stehen.“ Die Medizintechnik könnte dabei im „War for talents“ von ihrem Image als systemrelevante Branche mit hohem gesellschaftlichen Stellenwert profitieren und so den Zugang zu Ingenieuren und digitalen Experten verbessern. Gleichzeitig lässt der Personalmangel in der Krankenversorgung und Pflege den Bedarf an geeigneten Lösungen in unterstützenden Prozessen weiter anwachsen. Auch Leonhard betonte, dass man in Deutschland etwa im Bereich künstliche Intelligenz nach wie vor Aufholbedarf habe. „Mit Unterstützung der Politik müssen hier schnellstmöglich Anwenderzentren und KI-Hubs aufgebaut werden, die auch die Medtech-Unternehmen und ihre Bedürfnisse mit einbeziehen.“
KMUs müssen viel schultern und brauchen Unterstützung
In der Online-Diskussion wurde zudem klar, dass vor allem kleine und mittlere Unternehmen mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Dies bestätigte auch Julia Steckeler, Geschäftsführerin von Medical Mountains: „Viele Unternehmen haben ihre Rücklagen für die Umstellung auf die EU-Medizinprodukteverordnung aufgebraucht und dann kam die Krise. Das bringt viele an den Rand ihrer Kapazitäten.“ Mit dem aktuellen Lockdown würden die meisten Firmen aktuell jedoch besser zurecht kommen, berichtete sie. „Das Problem der Lieferketten scheint derzeit nicht so kritisch zu sein“, so Steckeler, verweist aber dennoch auf den Bedarf an weiteren Hilfen vom Bund. „Die bisherigen branchenübergreifenden Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung waren und sind wichtig. Doch nur ein Fünftel der Unternehmen rechnet damit, dass Anliegen der industriellen Gesundheitswirtschaft in der politischen Gesundheitsagenda auch künftig stärker berücksichtigt werden.“ Positive Impulse erhofft sich die Branche von der Leitmesse „MEDICA“, die in diesem Jahr als „virtual.MEDICA“ zum ersten Mal rein virtuell stattfindet und am Montag ihre Pforten geöffnet hat.